Hyperlokales Stadtleben in der Planung

Wir haben ein neues Lieblingswort. ‘Hyperlokal’ ist, wenn du genau weisst, welche Strassenecke gefährlich mit dem Velo zu passieren ist, in welcher vergessenen sonnigen Ecke du schon immer einen Beerenstrauch pflanzen wolltest oder welcher Marktverkäufer euch verrät, wann die Aprikosen besonders süss sind. Es ist das informelle Wissen, die Erfahrung, die spezifischen Bedürfnisse, die du hast, weil du an einem Ort viel Zeit verbringst. Unsere These ist: Hyperlokalität ist für ein gutes Stadtleben unverzichtbar. Und das möchten wir fördern.

Der Begriff des Hyperlokalen ist in der Planungswelt noch nicht angekommen. Könnte es daran liegen, dass hier informelles Wissen tendenziell als irrelevant gilt, weil es die ‘grossen Fragen’ nicht berührt? Wir finden jedenfalls, gerade jetzt wird Hyperlokalität besonders relevant in der Entwicklung unserer Städte. Dafür listen wir die Ausgangslage, vier Thesen und mögliche nächste Schritte auf.

Ausgangslage: Unsere Städte verdichten sich.

Das bisherige Planungsmodell der Nutzungsplanung konnte eine Zersiedelung der Schweiz nicht verhindern. Diverse Initiativen (etwa die Kulturlandinitiative im Kanton Zürich 2012) und Gesetzesänderungen (etwa die 1. Etappe der Revision des Raumplanungsgesetzes) verlang(t)en deswegen ein Umdenken. Das Wachstum soll nun im weitgehend überbauten Siedlungsgebiet stattfinden statt neue Flächen zu verschleissen: Innenentwicklung vor Aussenentwicklung. Oder auch: Städte verdichten sich.

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These 1: Stadtentwicklung geht alle etwas an.

Menschen rücken also in Ballungszentren zusammen. Diese Verdichtung der Städte führt im Idealfall zu einer grösseren Nutzungsdurchmischung, mit all ihren Vorteilen (kürzere Wege, vielfältiges Angebot, lebendiger Austausch, …). Sie führt aber auch zu Unsicherheiten, grösseren Nutzungskonflikten und teilweise zu einem nötigen Umdenken unserer Lebensformen, Arten zu wohnen, unserem Verkehrsverhalten, etc.
So sehr die Bevölkerung gegen weitere Zersiedelung ist, steht sie den Folgen der Verdichtung auch kritisch gegenüber. Ein Phänomen kommt dabei immer wieder vor: NIMBY (=Not In My Backyard!) steht für das Paradox, dass zwar eine Mehrheit die übergeordneten Entwicklungsziele, etwa die Innenentwicklung, befürworten -- aber besorgt sind darüber, wenn es sie direkt betrifft.
Wir glauben, der einzige Weg ist die Auseinandersetzung zwischen und ehrliche Einbindung möglichst diverser Stimmen in die Stadtentwicklung. Wie erreichen wir das?

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©michael meili

These 2: Die Zivilgesellschaft soll Kompetenzen (zurück) erhalten.

Hyperlokale Bedürfnisse finden in Stadtverwaltungen und -parlamenten nur selten ein Gehör. Und tendenziell wird es weniger: Ein*e Zürcher Gemeinderät*in repräsentiert heutzutage rund 3500 Menschen, dreimal so viel wie noch vor 100 Jahren. Wenn dies der Weg ist, gilt es erst recht nach Möglichkeiten zu suchen, wie die Bevölkerung für die Gestaltung ihrer unmittelbaren Lebenswelt Kompetenzen (zurück) erhält und sich organisieren kann.
Daher finden wir es wichtig, dass zivilgesellschaftliche Strukturen gestärkt werden. Das bedeutet, dass informellere, fluidere Netzwerke aus lokal engagierten Menschen die Unterstützung erhalten, die sie brauchen. (Dies versuchen wir übrigens mit der Quartieridee Wipkingen, Zürichs erstem partizipativen Quartierbudget. Hier könnt ihr unseren Erfahrungsbericht nachlesen. Dass es auch in anderen Ländern in diese Richtung geht, zeigt etwa der In Deutschland ausgeschriebene Preis “Koop.Stadt”.)

These 3: Die Raumplanung muss mehr hyperlokales Wissen einbinden, damit sie zukunftsfähige Projekte entwirft.

Nun sollen also noch mehr Leute in der Planung mitreden, als es eh schon tun? Zu Recht wird vielerorts argumentiert, dass stadt- und raumplanerische Fragen im grösseren Kontext betrachtet werden sollen, dass Orte vernetzt und zusammen gedacht werden sollen und dass lokale und hyperlokale Betroffenheit nicht ein strategisch sinnvolles, grossräumiges Projekt verhindern soll.
Und doch zeichnet sich ab, dass auch in der Planung unserer Städte und Siedlungsräume ein Paradigmenwechsel stattfinden muss. Weniger top-down und mehr aufeinander zu (kollaborativer Urbanismus). Wir finden also: Je eingreifender die übergeordneten Planungsprozesse ausgestaltet werden (müssen), je stärker die Innenentwicklung Fuss fasst, desto stärker müssen die spezifischen hyperlokalen Eigenheiten berücksichtigt werden. Dies muss geschehen, nicht nur um Konflikte zu verhindern, sondern vielmehr um durch Verdichtung die Lebensqualität zu verbessern.
Hinzu kommt: Wir können es uns schlichtweg nicht leisten, Millionen-Planungs-Projekte aufzugleisen, die nach Jahren an der Urne undifferenziert scheitern.

These 4: Die planenden Institutionen müssen zugänglicher werden.

Es geht nicht (nur) darum, besonders gute Erhebungsmethoden zu (er)finden, um möglichst alles hyperlokales Wissen abzuschöpfen und in die Planung zu integrieren. Teilhabe ist ein Prozess, der immer wieder von Neuem eröffnet und gelebt werden muss. Das ist aufwändig, ja! Doch wenn wir nicht anfangen, Teilhabe regelmässig zu ermöglichen und auszuweiten, kommen wir erst recht nirgendwo hin.
Wir finden, planende Institutionen müssen lernen, die hoch komplexen Sachverhalte besser zu vermitteln, anfassbar zu machen -- ihre Methoden und Überlegungen greifbar zu machen und auch aufzuzeigen, wie an der Stadtentwicklung mitgestaltet werden kann.
Planende Institutionen müssen ansprechbar sein. Damit können sie ein klares Signal geben, dass letztendlich alle Teil der Entwicklung sind.

Wie weiter? Neue Arten der Kooperation mit Bewohner*innen

Die Expert*in für Hyperlokales sind die Bewohner*innen selbst. Im Interesse einer progressiven Raum- und Stadtplanung liegt es daher, mit diesem hyperlokalen Erfahrungsschatz zu kooperieren. Dafür sehen wir drei Möglichkeiten:

  • Klassischer Weg: Durch qualitative Befragungen der Bewohner*innen können wertvolle Einblicke gewonnen und sich ein Überblick verschafft werden. Solche Sozialraumstudien werden teilweise bereits eingesetzt, jedoch noch viel zu selten, wie wir finden. Das Problem bei dieser Art der Erhebung kann jedoch sein, dass zu generische Antworten herauskommen (“Ich will mehr Grün” oder “Zürich braucht eine U-Bahn”). Über Bedürfnisse nur zu reden, ist schliesslich etwas abstrakt. Darum:
  • Lernen durchs Zusammen-Machen: Wir plädieren dafür, so oft wie möglich etwas zusammen zu machen (aktivierende Quartierspaziergänge, Spielbars, gemeinsam Basteln, Bauen…) und den wichtigen Fragen in gemeinsamer Aktivität nachzugehen. Am besten ist, wenn durch die Aktivität gerade die Frage getestet wird, um die es eigentlich geht. Also zum Beispiel direkt eine Testnutzung machen, wenn es darum geht, wie ein Ort entwickelt werden kann.
  • Verantwortung abgeben für Selbstorganisation: In Situationen, in denen eine hohe Dichte an engagierten Bewohner*innen vorhanden ist, kann auch der Weg der Selbstorganisation interessant sein (ein aktuelles Beispiel in diese Richtung ist die Alte Zentralwäscherei in Zürich). Dabei bekommen die Städter*innen weitreichende Kompetenzen, ein Projekt selbst zu gestalten. Eine vorausschauende Planung unterstützt solche Engagierten und positioniert sich ihnen gegenüber als Dialogpartnerin, um gemeinsam an der Weiterentwicklung des Ortes zu arbeiten.
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Wichtig ist natürlich, diese Wege nicht als Billig-Lösung zu verstehen. Vielmehr sind solche Prozesse im ersten Moment aufwändiger (und womöglich: teurer). Doch wir glauben, auf lange Sicht sind sie nachhaltiger.
Ausserdem: Partizipative Prozesse können (und sollen) durch mittlerweile gute digitale Instrumente begleitet werden. Mit Online-Partizipationsplattformen wie z.B. Decidim wird es möglich, dass Verwaltungen die Bevölkerung orts- und zeitungebunden erreichen und die Stadtbewohner*innen sich auch untereinander organisieren können.

Wir als Urban Equipe setzen uns immer wieder für dieses hyperlokale Wissen ein und suchen nach Brückenschlägen. Wir freuen uns, von euren konkreten Projekten zu hören!

Woher kommt der Begriff ‘hyperlokal’?

Wir möchten diesen Begriff für die Raumplanung und Stadtentwicklung zugänglich machen. In etwas anderer, aber verwandter Verwendung taucht er auch in anderen Kontexten auf:

  • Seit den 90er Jahren wurden im US Fernsehen Liveübertragungen von Verfolgungsjagden ausgestrahlt. Hyperlokal bedeutet hier, dass du gerade hier und jetzt siehst, was in deiner Umgebung passiert.
  • Mit der Digitalisierung wurde die Hyperlokalität in den Nullerjahren zum Buzzword in diversen Zukunftsvisionen (etwa von Bruce Sterling // wired.com oder vom GDI-Impuls Magazin). Dabei ging es v.a. darum, dass durch die Geo-Positionierung eine verstärkte Vernetzung im unmittelbaren Raum möglich wird. Dies schafft lokal verankerte Nischen und führt zu einer Identifikation mit dem Raum, was die Diversität von lokalen Angeboten und Dienstleistungen im öffentlichen Raum stärken kann (wie in diesem Artikel des Zukunftsinstituts nachgelesen werden kann). Die verstärkte Vernetzung der Nachbarschaften soll Wege verkürzen, die soziale Struktur stärken und allgemein zu einer höheren Lebensqualität führen.
  • Im Journalismus wird die Hyperlokalität heute als Stufe nach der Lokalebene verwendet. Im Fokus sind aktuelle Nachrichten aus kleineren Räumen wie Nachbarschaften, Stadtteilen oder (Klein)Gemeinden, welche häufig auch auf Interaktion oder Vernetzung der ansässigen Bevölkerung abzielen. Dabei sind einfache Kommunikationskanäle und Partizipationsmöglichkeiten wichtig, weshalb diese Form des Journalismus häufig online stattfindet. Unsere Komplizin tsüri.ch bewegt sich in dieser Sphäre der Hyperlokalität und erforscht sie unter dem Schlagwort https://tsri.ch/civic-media/